Kommentar von Herausgeber Leo Lugmayr
Die Wahrheit ist nicht immer ident mit der veröffentlichten und allgemein anerkannten Wahrheit. Als Wahrheit gilt oft das, was einerseits vom Mainstream behauptet und andererseits von der Mehrheit geglaubt wird. Das gilt nicht nur bei Scheidungen im privaten Bereich, wo es immer zwei Wahrheiten gibt, sondern auch in der Geschichtsschreibung, wo die Geschichtsbücher stets von den Siegern und den Mächtigen geschrieben werden, siehe NS-Zeit, Kommunismus und Zeiten anderer Diktaturen der Vergangenheit und Gegenwart. In der Politik gilt das wohl auch. Etwa beim Schließen von Vernunftehen wie jener von ÖVP, SPÖ und Neos, die am Rosenmontag (Danke für die Rosen!) feierlich vollzogen wurde. In unserem Leitartikel vom 18. Oktober des vergangenen Jahres mutmaßten wir, dass eine Regierung vielleicht erst am Faschingsdienstag zustande kommen würde. Ich meinte das ironisch und lag offenbar mit der Einschätzung einen Tag daneben.
Die Entwicklung der vergangenen 155 Tage, kurz und verwirrend zusammengefasst: Türkis bekommt den Regierungsbildungsauftrag, Pink kann aber mit Rot nicht. Türkis kann dann auch mit Rot allein nicht. Blau kann mit Türkis erst recht nicht. Zurück an den Start: Türkis, Rot und Pink können schließlich doch miteinander. Angelobung der Regierung am Rosenmontag. Als am Donnerstag, 27. Februar, Stocker, Babler und Meinl-Reisinger im sogenannten Egon-Schiele-Saal des Parlaments vor die Presse traten, hieß es aus dem Mund des Bundeskanzlers echt österreichisch: „Beim Reden kommen die Leut zam!“
Der Egon-Schiele-Saal im dritten Obergeschoß des Parlaments hat nicht nur ein Glasdach, sondern auch an allen vier Seiten Glaswände. Ob man damit Transparenz signalisieren wollte, ist nicht überliefert. Das sogenannte Auditorium im Erdgeschoß des Parlaments, das für Pressekonferenzen eigentlich geschaffen worden ist, wäre frei gewesen, wurde aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht für die Verkündung der politischen Frohbotschaft gewählt. Fest steht jedenfalls, dass Österreich – genauso wie Stocker, Babler und Meinl-Reisinger – hörbar aufgeatmet haben. Endlich! Nach mehr als fünf Monaten Hin und Her hat Österreich eine Regierung, die sich auf das Wahlergebnis von September berufen kann. Eine handlungsfähige Regierung hatten wir ja die ganze Zeit über, das sollte nicht vergessen werden. Der amtierende Kanzler und sein amtierender grüner Vizekanzler waren sogar beim Opernball.
Es wurde viel Zeit benötigt, um sich auf das 210 Seiten starke Regierungsprogramm zu einigen. Man könnte jetzt trefflich über die Verteilung der Minister- und Staatssekretärsämter, die hohen Kosten der Regierung, die vertane Zeit, die leeren Kilometer oder die Rolle des Staatsoberhaupts monieren. Nein, ich tu das nicht. Ich bleibe Optimist: Ich hatte beim Durchlesen des Regierungsprogramms den Eindruck, dass es diese Regierung wirklich ernst meint. Das ist jetzt einmal meine Wahrheit. Ob sich diese „Ampel-“ oder „Zuckerl-Regierung“ bewähren wird, das wird die Zukunft zeigen. Eine Vernunftehe ist keine Liebesheirat. Man kann aber versuchen, das Beste daraus zu machen. Nach dem Motto: „Beim Reden kommen die Leut zam!“ Glück auf, Herr Bundeskanzler, Herr Vizekanzler und Frau Außenministerin! Erspart es uns, dass es nicht funktioniert! Denn die Scheidung hätte wohl wieder mehrere Wahrheiten.