„Je intensiver man in sein künstlerisches Archiv hineinschaut, umso nervöser schaut es zurück“

Seit 4. April beherbergt das PrevenhuberHaus die Ausstellung „Nervöses Archiv“ der deutschen Konzeptkünstlerin Andrea van der Straeten. In Trier geboren, lebt und arbeitet die heute 71-Jährige seit 1987 in Wien und leitete von 2002 bis 2018 als Professorin die Experimentelle Kunst an der Kunstuniversität in Linz. Künstlerisch zu Hause ist die studierte Germanistin und Politikwissenschafterin in den Bereichen der Fotografie, der Zeichnung, des Films, der Künstlerbücher und der Sprache. Wer die charismatische Wahl-Österreicherin persönlich kennenlernen möchte, hat dazu in Weyer noch zwei Mal die Gelegenheit: Zum einen ist sie bei der Midissage am 1. Mai ab 14.00 Uhr vor Ort, zum anderen bei der Finissage am 11. Mai ab 15.00 Uhr. Redakteurin Karin Novak durfte der renommierten Künstlerin ein paar Fragen stellen
1998 realisierten Sie gemeinsam mit dem „Der Bote von der Ybbs“ das Projekt „Das Haus der Kälte“. Worum genau handelt es sich dabei?
„Haus der Kälte“ ist der Titel (m)eines Films über eine kleine Gruppe Jugendlicher, über ihre Wünsche, auch ihre Schwierigkeiten in der Schule, in der Familie, Streitereien, erstes Verliebtsein und vieles mehr. Der bevorstehende Kinostart dieses Films, der mit einem internationalen Budget produziert wurde und kommerziell ausgewertet werden sollte, wurde überall in der Stadt mit großen Plakaten in City-Leuchtkästen beworben. Tatsächlich hat sich der Film aber als eine Art Kopf-Kino realisiert. Das heißt, er hat in den Köpfen und der Fantasie der Menschen stattgefunden, die regelmäßig die regionale Wochenzeitung „Bote von der Ybbs“ gelesen haben, immerhin eine Gemeinschaft von damals circa 4.000 Abonnenten. Über einen Zeitraum von sechs Monaten hat sich ein umfassendes Bild des Films aus vielen Texten, Fotos, Zeichnungen, Informationen zusammensetzen können. Jede Woche erschien ein neuer Beitrag zum Film. Man konnte Szenen aus dem Drehbuch lesen, Interviews mit den Beteiligten, zum Beispiel der Maskenbildnerin oder der Schnittmeisterin. Der Fotograf, der die künstlerischen Projekte in der Ausstellung in Waidhofen für die Publikationen von „Kunst im öffentlichen Raum NÖ“ fotografiert hat, erzählte mir, dass er Kinder auf den Film angesprochen hatte und sie ihm gesagt haben, dass einige Freunde oder Verwandte im Film mitgespielt oder gewirkt hätten. Die Beiträge habe ich von Woche zu Woche überwiegend selber geschrieben, gezeichnet, fotografiert usw. und im Vor-Internet-Zeitalter per Fax an die Redaktion geschickt, wo sie gesetzt und gedruckt wurden. Ohne Veränderungen. Das heißt: Der Film entwickelte sich im und durch den „Bote von der Ybbs“. Der Film sah nie eine Leinwand – und das Publikum auch nie den Film im Kino – auch wenn Fotos vom angeblichen Start bei einem Filmfestival in Deutschland und Frankreich das suggeriert haben.
Wie sind Sie als internationale Künstlerin auf die Kleinstadt Waidhofen und mit Familie Stummer in Kontakt gekommen?
Mein Filmprojekt „Haus der Kälte“ war Teil der Ausstellung „Perimeter – 6 Projekte in Waidhofen an der Ybbs“, die aber nicht in einer Galerie zu sehen war, sondern im städtischen Raum, der allen zugänglich ist. Die Stadt hatte sich wohl wegen eines möglichen Projektes in Waidhofen an die Ausstellungs-Leiterin Katharina Blaas in St. Pölten gewendet. Als ich Waidhofen das erste Mal besucht habe, wusste ich sofort, dass ich auf keinem der schönen Plätze etwas installieren oder bauen wollte. Die alte Stadt ist sehr gut erhalten, geradezu idyllisch. Deshalb sind hier auch schon tatsächlich viele Filme gedreht worden, allerdings hauptsächlich in den 1930er-Jahren. Mich hat interessiert, den öffentlichen Raum als Raum der Kommunikation zu sehen. Die Filmtradition erschien mir als guter Anknüpfungspunkt. Mit der Familie Stummer bin ich dann wegen der Umsetzung des Projektes in Kontakt getreten. Und war sehr glücklich, dass sie bereit waren, sich darauf einzulassen. Es gab natürlich zunächst Bedenken, denn eine Zeitung sollte schließlich der Wahrheit verpflichtet sein und nicht Gerüchte verbreiten. Die Stummers kannten mich nicht; d. h. über Monate hinweg 22 Beiträge zu publizieren, setzt auch Verbindlichkeit und Vertrauen voraus – auf beiden Seiten. Ich fand, dass die Redaktion sehr offen, neugierig und sehr couragiert war – und sie haben gemerkt, dass es nicht meine Absicht war, die Waidhofner „hinters Licht“ zu führen. Es ging mehr um einen aufmerksamen und kritischen Blick auf unsere reale und kommunikative Umgebung und um Fantasie und Vorstellungskraft. Die Zusammenarbeit hat sehr viel Spaß gemacht. Gibt es in Waidhofen eigentlich noch ein aktives Kino? Jetzt – 27 Jahre später, ist Fake News im Bewusstsein aller und es ist eine grimmige und beängstigende Realität geworden. Genaues Hinsehen, Lesen, Hinterfragen ist wichtiger denn je. Die ganzen Beiträge im „Bote von der Ybbs“ hatte ich 1999 im so genannten „Buch zum Film“ beim Triton Verlag veröffentlicht; und ein gebundenes Exemplar aller „Bote von der Ybbs“-Ausgaben von Mai bis Oktober 1998 ist in der Sammlung von „Kunst im öffentlichen Raum NÖ“ in St. Pölten.
Worum geht es in Ihrer aktuellen Ausstellung „Nervöses Archiv“ von April bis Mai im PrevenhuberHaus in Weyer?
Je intensiver man in sein künstlerisches Archiv hineinschaut, umso nervöser schaut es zurück … Oder umgekehrt? Oft stellt man sich die Arbeit von Kunstschaffenden so vor, dass sie im Atelier arbeiten, die Werke ausstellen und verkaufen und wieder neue schaffen. Das stimmt nur zum Teil, denn so reibungslos und flott funktioniert der Kreislauf leider nicht. Arbeiten müssen in Lager verstaut werden, man muss Werklisten erstellen … Die Werklisten mache ich mir attraktiver, indem ich Ausstellungen zusammenstelle, und dabei versuche herauszufinden, ob und was künstlerische Arbeiten, die ich vor 20, 30 oder 40 Jahren gemacht habe, uns heute noch sagen können. Dazu braucht man auch eine kritische Sicht „von außen“; deshalb hatte ich Vincent Elias Weisl um seinen kritischen Blick angefragt. Er ist Kurator am Wien Museum und wir kannten uns nicht persönlich. Reine Bildsprache, auch gedruckte, gestanzte, gesprochene Sprache machen auf unterschiedliche Weise darauf aufmerksam wie wir – Menschen, Tiere, Pflanzen – in Kontakt miteinander treten und uns äußern. Also es geht eigentlich immer um Kommunikation. Einige der ausgestellten Arbeiten sind auch in Zusammenarbeit mit Künstlerkollegen entstanden und es wird im Rahmen der Ausstellung auch Gespräche und eine Lesung künstlerischer Texte geben.
Als Artist in Residence haben Sie in großartigen Städten wie Venedig, Paris, Rom und New York gelebt und gewirkt. Was haben Sie aus jeder der Städte für sich persönlich mitgenommen?
Neue Freundschaften mit Kolleginnen und Kollegen an allen Orten. Aus New York habe ich billiges Pizzapapier in Faltschachteln mitgenommen und es in Wien mit 24 Karat Dukatengold vergoldet oder darauf gezeichnet. Aus Venedig den Kontakt zu einem Verlag für handgefertigte Bücher; mit dem habe ich in der Pandemie ein kleines Künstlerbuch produziert; aus Paris die Erinnerungen an die Proteste der Gelbwesten, Fotos der vielen in der Wut zerbrochenen Schaufensterscheiben; aber auch die Erinnerung an die frischen Austern, die man dort manchmal so unkompliziert essen kann wie bei uns eine Jause am Würstlstand.
Welches Ihrer Werke empfinden Sie als Ihr bedeutendstes?
Ich habe alle gleich lieb, wenn ich mich auch nicht um alle gleich kümmern kann :-) … Einige sind aus Atelier und Lagern mittlerweile ausgezogen, weil sie in Museen oder Sammlungen sind. Das ist auch befreiend.
Seit 1987 leben und arbeiten Sie in Wien. Was waren Ihre Gründe, nach Österreich zu gehen?
In den 1980er-Jahren war ich fasziniert von der Kunst und Medienkunst in Österreich. Ich hatte mich für ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes für Wien beworben – mit einem Empfehlungsschreiben von Valie Export. Für ein Jahr war ich dann in Wien an der Angewandten in der Klasse für Animationsfilm, die Maria Lassnig nach ihrer Rückkehr von New York nach Wien zusätzlich zu ihrer Klasse für Malerei initiiert hatte. Ein Jahr vergeht schnell, neue Arbeitsweisen, neue Herausforderungen, neue Freundschaften … Wie das manchmal so ist, bleibt man länger, als man dachte ….
Dirk Stermanns „6 Österreicher unter den ersten 5“ ist die Liebeserklärung eines Deutschen an die Alpenrepublik. Fühlen Sie sich nach bald 40 Jahren in Ihrer Wahlheimat als Österreicherin oder eher zwischen den Welten?
Oft empfinde ich mich – wenn ich in Deutschland bin – schon sehr „österreichisiert“. Aber als ich Ihre Fragen bekommen habe, war ich auch wieder „piefkinesisch“ genug zu denken, dass ich die jetzt ganz ernsthaft „abarbeiten“ sollte 😊
Wir danken für das Gespräch!
Wordrap
- Mein Wunschberuf als Kind: Zeichnerin von Tapetenmusterbüchern
- Die berühmten Drei für die einsame Insel: 007 (könnte inzwischen ja wieder nützlich sein), Stefanie Reinsperger, mein italienischer Lebensgefährte
- Mein Sehnsuchtsort: eine Wolke, die sich schwebend steuern lässt
- Wen ich gerne einmal treffen würde/getroffen hätte: Johann Sebastian Bach
- Team Hund oder Katze: Vogel
- Serientipp für ein verregnetes Wochenende: Serien schau ich eigentlich nicht mehr, die letzten waren vielleicht „Sex and the City“ und „Abnehmen in Essen“, mit Essen war die Stadt im Ruhrgebiet gemeint. Ich zappe lieber und lasse mich von Unerwartetem einnehmen – meistens Dokus.
- Mein letzter Konzertbesuch: ein Jazz Konzert, das Renald Deppe gewidmet war
- Was ich schon immer einmal tun wollte, mich aber nicht getraut habe: vom 10-Meter-Brett springen
- Meine „letzte“ Mahlzeit: Pasta (e basta)
