„Ein Juwel an heimatlicher Zeitgeschichte rettet unwiederbringliche Erinnerungen“

Maria Pechgraber ist am Schnabelberg aufgewachsen und war 34 Jahre Bäuerin vom Obernachbarreith, bevor Sohn Lukas den Hof übernommen hat. Vom einst bekanntesten Hausberg der Stadt Waidhofen hat die dreifache Mutter Geschichten und Fotos zusammengetragen, um diese unwiederbringlichen Erinnerungen vor dem endgültigen Vergessen zu retten. Aus dem vom Verlag „Ybbstaler“ herausgegebenen Buch „Der Schnabelberg“ liest die Neo-Autorin am Pfingstmontag, 9. Juni, um 14.00 im haus.konradsheim. Redakteurin Karin Novak hat die leidenschaftliche Bewahrerin von Vergangenem am Hof besucht. Im Gespräch wurde schnell klar, der 58-Jährigen geht es nicht um eine Verklärung der „guten, alten Zeit“, ihr Credo lautet: „Man muss die Geschichte kennen, um die Gegenwart zu verstehen und die Weichen für die Zukunft zu stellen.“
Hat Ihre eigene Biografie dazu beigetragen, sich mit der des Schnabelbergs auseinanderzusetzen?
Damit hat eigentlich alles begonnen. Ich wollte eine Familienchronik verfassen, um darin auch alle Erinnerungen und Geschichten, die ich von meiner viel zu früh verstorbenen Mutter noch wusste, zu erhalten. Darüber ist mir bewusst geworden, wie sehr ich noch von dieser Zeit mit ihr zehre, und wie viel von der mündlichen Überlieferung verloren gehen würde. Unser Haus ist ja schon sehr lange in Familienbesitz und so habe ich mich 2016 auf die Suche nach früheren Ahnen gemacht. Dafür eignen sich natürlich am besten Kirchenbücher. Dort findet man – mittlerweile sogar in digitalisierter Form –, wer wann geboren ist, geheiratet hat, gestorben ist. Beim Durchstöbern der Matrikel bin ich oft bis drei in der Früh gesessen, einfach weil man dabei Zeit und Raum vergisst. Einzig über die Hahnlreith, dem Bauernhaus oberhalb von uns, das es gar nicht mehr gibt, konnte ich lange Zeit nichts herausfinden. Nicht einmal mithilfe von Kirchenbüchern oder dem städtischen Archiv ließ sich Licht ins Dunkel bringen. In einem Taufbuch bin ich irgendwann über den Namen Jörg Hötz gestolpert, ein für unsere Breiten höchst ungewöhnlicher Name zur damaligen Zeit, und über Frau Janda fand ich dann heraus, dass auf der Hahnlreith und generell auf der Rückseite des Schnabelbergs in der Gegenreformationszeit Protestanten zu Hause waren.
Gab es noch weitere Unterstützer?
Es haben sogar sehr viele zu diesem Buch beigetragen. Allen voran mein 84-jähriger Nachbar Anton Mayer, der ehemalige Land- und Gastwirt vom Hochpöchl, der vieles noch selbst miterlebt hat. Etwa den Straßenbau auf den Schnabelberg, der Anfang der 60er-Jahre auf Initiative von Bürgermeister Kohout erfolgte, um den Segelflugplatz auf der Hahnlreith besser zu erreichen, den es seit den 30er-Jahren da oben gegeben hat. Sogar Leopold Figl und der amerikanische Botschafter statteten dem Flughafen einmal einen Besuch ab. Die Straße war so eine Sensation, dass die Waidhofner an Sonntagnachmittagen zu Fuß raufgegangen sind, um Asphalt zu schauen. Das war schon was, wenn man bedenkt, dass nach Gaflenz oder Weyer noch eine Schotterstraße führte. Aber zurück zu den Unterstützern. Auch die Dissertation von Klaus Farfeleder über die Hofchroniken von Konradsheim hat mir sehr weitergeholfen, weil er darin Texte aus dem Münchner Staatsarchiv von 1305, die schwer zu lesen und interpretieren sind, bereits aufgearbeitet hat. Als die Leute mitbekommen haben, dass ich über unser Haus und die umliegenden Höfe eine Chronik schreibe, sind sie vorbeigekommen und haben mir alte Fotos gebracht. An die 600 haben sich so zusammengesammelt. Und dann hat mich irgendwann auch Ernst Teufel angesprochen und mir seine unbezahlbare heimatkundliche Sammlung zur Verfügung gestellt. Er war es auch, der gemeint hat, ich solle zusätzlich Geschichten von den Leuten und über ihr Leben mit einbringen.
Haben Sie eine Lieblingsbiografie?
Ich mag jede einzelne, aber die Lebensgeschichte unseres letzten Knechts Adolf, der Jahrgang 1904 war, die ist mir besonders wichtig. Er war in seinem Leben ein Niemand, wurde einfach nicht gesehen und ich gebe ihm 40 Jahre nach seinem Tod mit meiner Erzählung ein Gesicht, bewahre sein Andenken. Sein jähzorniger Vater hat ihn mit vier Jahren an einen Baum gebunden und ihm derart oft und heftig auf den Schädel geschlagen, dass die Schädelbrüche und Dellen noch ihm hohen Alter spürbar waren. Sprachlich ist er auf dem Stand des Vierjährigen stehengeblieben ist. Mit zwölf Jahren hat ihn sein Vater einem Bauern in Mariazell übergeben oder ihn eher dort ausgesetzt, das trifft es wohl besser. Mithilfe einer Ansichtskarte von Waidhofen hat sich der Junge zurück nach Hause durchgeschlagen und wurde bei uns am Hof Knecht, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. So war die Zeit früher, nicht unbedingt golden. Heute bekommt ein Fünfjähriger einen Therapeuten, wenn er seinen Geburtstag in der Pandemie nicht feiern konnte.
Wie sehr hat sich der Schnabelberg im Lauf des vergangenen Jahrhunderts verändert oder ist die Zeit hier stehengeblieben?
Nein, die Zeit ist nicht stehengeblieben. Die Veränderungen sind sogar beachtlich. In den 70er-Jahren hat es hier heroben gewimmelt wie in einem Ameisenhaufen, so viele Besucher kamen auf den Berg wegen der Skilifte oder zum Spazierengehen. Das kleine Bauernwirtshaus wurde zu einem Bergrestaurant erweitert, alle Höfe waren bewirtschaftet. Heute ist nur mehr wenig los, Gasthaus und Skilift sind geschlossen, von den ehemals sechs Bauernhäusern sind wir das einzig verbliebene im Vollerwerb. Dass der Schnabelberg von seinem Glanz verloren hat, ermöglicht ihm aber zu renaturieren. Auch der Fortschritt in der Landwirtschaft ist längst heroben angekommen. Jahrhundertelang wurde mit Pferd und Ochs gearbeitet, heute mit modernster Technologie. Einzig die Gesellschaft kommt den technischen Entwicklungen nicht hinterher. Da hat man manchmal das Gefühl, Moralvorstellungen und Sichten der Menschen haben sich kaum weiterentwickelt.
Welche Bewandtnis hat es mit dem riesengroßen Baumstumpf auf der letzten Seite Ihres Buchs?
Ein Bekannter des Hauses hat das Foto vom Baumstumpf im November in dieser wunderschönen Morgenstimmung gemacht, inspiriert von der Vergänglichkeit, die er symbolisiert. Als er mir das Foto gezeigt hat, wusste ich, das möchte ich als letzte Seite für mein Buch. Der Baum war gut 400 Jahre alt, hat sozusagen schon dem Basilikabau am Sonntagberg zugeschaut. Ein Sturm hat ihn, der schon hohl und morsch war, umgerissen. Für mich symbolisiert er das Leben an sich. Ich habe über den Baum und die Vergänglichkeit ein Gedicht geschrieben, mit dem ich ein klein wenig zum Nachdenken anregen möchte.
Wird es weitere Bücher geben oder ist über den Schnabelberg mit dem Buch schon alles erzählt?
Ja, ich arbeite sogar bereits am zweiten. Im Kopf ist es schon fertig. Das wird aber etwas ganz anderes.
Vielen Dank für das Gespräch!
Wordrap
- Mein Wunschberuf als Kind: Krankenschwester oder eben eh Bäuerin, ich war schon als Kind hier verwurzelt
- Die berühmten Drei für die einsame Insel: meinen Laptop, ein gutes Buch und ein Häferl Kräutertee
- Mein Sehnsuchtsort: Schnabelberg (wie aus der Pistole geschossen)
- Wen ich gerne einmal treffen würde/getroffen hätte: Leopold Figl
- Team Hund oder Katze: beide
- Serientipp für ein verregnetes Wochenende: die Dokumentationsreihe über das Erbe Österreichs
- Mein letzter Konzertbesuch: Konzert der TMK Konradsheim
- Was ich schon immer einmal tun wollte, mich aber nicht getraut habe: Ich fürchte mich vor nichts, traue mich grundsätzlich alles. Weil: Zu Tode gefürchtet, ist auch gestorben.
- Meine „letzte“ Mahlzeit: Schnabelberger Gupferlkäs‘ mit selbst gemachtem Bauernbrot
