Der glühende Waidhofner fand in Mexiko zwar ein zweites Zuhause, seine Heimat trug er dennoch im Herzen, wie das Prosagedicht „Heimkehr“ belegt

Ingenieur Johann Schüsseleder wurde 1940 in Waidhofen als erstes von vier Kindern des Schneidermeister-Ehepaares Johann und Josefa Schüsseleder geboren. Nach der Absolvierung der HTL Waidhofen führte ihn sein beruflicher Werdegang nach Schweden. In Stockholm, wo Schüsseleder auch seine Familie gründete, arbeitete er für das Telekommunikationsunternehmen LM – Ericsson und übernahm dort bald eine leitende Position. In dieser Funktion bereiste er die ganze Welt, lebte in den Ländern Lateinamerikas, in der ehemaligen Sowjetunion, in Prag und Budapest und reiste von Brasilien bis China und Australien. Dementsprechend viele Sprachen erlernte er. In der Slowakei war er über viele Jahre der leitende Direktor von Ericsson.
Er verhandelte mit Regierungen in der ganzen Welt, war verantwortlich für den Aufbau von Telekommunikationssystemen in vielen Ländern dieser Erde und war – wo auch immer – ein leidenschaftlicher Botschafter Österreichs und Waidhofens. 20 Jahre arbeitete
er für die französische Firma Alcatel und gründete danach in der Slowakei sein eigenes Unternehmen.
Ein ewig Reisender
Die letzten zwei Dekaden seines Lebens verbrachte er mit seiner zweiten Frau Gloria in Tepoztlán und in Cuernavaca in Mexiko. Er liebte Mexiko und hatte großes Wissen über das Land und dessen Geschichte. Immer wieder verlebte er Zeit in Stockholm bei seinen Kindern und Enkeln, aber auch in Wien und Waidhofen mit seinen Schwestern, Nichten, Neffen und Freunden von früher. Der wöchentliche Stammtisch in Waidhofen war für ihn eine große Freude. So war und blieb er ein ewig Reisender.
Seine Liebe zur Kunst war ein großer Teil seiner Persönlichkeit, er förderte Maler durch den Ankauf von Bildern, sponserte Instrumente von jungen Musikern und war selbst ein leidenschaftlicher Hörer von klassischer und lateinamerikanischer Musik. In Mexiko konnte er lange Zeit im Radio österreichische Klassik-Sender hören, das bedeutete für ihn Glück. Mit der österreichischen Community in Mexiko war er stark vernetzt und befreundet – unter ihnen viele Musiker, Dirigenten und Filmemacher, zum Beispiel der preisgekrönte Waidhofner Michael Vetter. Alle haben sie ihren großen Beitrag zur Völkerverständigung geleistet. Am 4. Oktober ist Johann Schüsseleder in Tepoztlán verstorben.
Prosagedicht „Heimkehr“
Nur wenige Monate vor seinem unerwarteten Ableben verfasste Johann Schüsseleder während eines Heimaturlaubs am Buchenberg dieses Zeugnis seiner Sehnsucht nach Waidhofen
Aus weiter Ferne, vom anderen Ende der Welt, zieht es mich zurück – nicht aus Zufall, sondern aus einer stillen, immerwährenden Bewegung des Herzens. Die Heimat ruft, nicht laut, doch unaufhörlich. In der Reife des Alters tauche ich ein in das vergangene Leben, suche Spuren, Schatten, Echo jener Welt, die ich einst verließ.
Damals – jung, voller Drang, die Enge abschüttelnd, suchte ich Weite, suchte anderes. Doch erst durch die Entfernung wurde mir bewusst, wie sehr ich verbunden war. Heimat wird oft erst zur Heimat durch die Abwesenheit. Waidhofen – die Stadt im Herzen des Landes, fest verankert im Innersten meines Seins. Die engen Gassen, der Klang des Wassers, das Rauschen der Ybbs und der Bäche – sie tragen die Vergangenheit auf ihren Wellen. Der Duft der blühenden Linden weckt, was tief verschüttet lag. Die Berge ringsum, in zahllosen Grüntönen getaucht, laden zum stillen Gehen, zum Erinnern, zum Verweilen. Nadelwälder in dunklem Takt, lichte Buchen in flirrendem Spiel, Wiesen in smaragdener Weite – eine Landschaft wie ein leiser Trost. Obstbäume in Blüte, gleichmütig wie eh und je, verheißen Ruhe in einer Welt, die hastig geworden ist. Vieles ist anders. Die Stille von einst – sie wurde vom Lärm der Zeit überdeckt.
Wo früher nur der Markt klang und das ferne Pochen der Schmieden, herrscht heute ein anderes Getöse. Und doch – in den engen Winkeln, hinter den dicken Mauern, da lugt sie noch hervor, die alte Ruhe. Man muss nur hinschauen, hinhören, vielleicht auch innehalten.
Die Stadt zeigt sich mir – verändert, ja, aber nicht vergessen. Es gab Opfer auf dem Altar der Moderne. Dem ehrwürdigen Turm des Schlosses ein Narrenkäppchen, manch Fassade hart geglättet, „um Spannung zu schaffen“, wie man sagt – Spannung zwischen Alt und Neu, als ob das allein genüge. Doch der Kern – er lebt. Die Seele der Stadt ist nicht verloren. Noch trägt mich die Erinnerung zurück, noch fließt durch meine Schritte ein Strom aus Früherem.
Ich gehe durch Straßen, sehe Gesichter. Die meisten fremd. Und doch – manchmal, in einem Blick, einem Lächeln, meint man ein einst Vertrautes zu erkennen. Ist es wirklich die, der ich vertraute? Ist es jener, mit dem ich einst lachte? Manchmal klärt sich das Bild. Ein Zucken im Gesicht, ein Lächeln des Wiedererkennens – und plötzlich öffnet sich ein Tor. Vergessen Geglaubtes kehrt zurück. Geschichten. Namen. Lachen. Streit. Liebe. Alles wieder da, für einen Augenblick. Menschen, die längst gegangen sind, leben fort – weil sie erinnert werden. Weil ihr Name, ihr Wesen, ihre Eigenheit noch in uns wohnt. Viele von ihnen finde ich nun am Friedhof. Vor den Toren der Stadt reihen sich Stätten der Ruhe, der Abschiede. Das Grab der Eltern, daneben andere. Ich gehe von Name zu Name, von Ruhestätte zu Ruhestätte. Jeder Stein – ein Buch, ein Kapitel, ein Fragment aus meinem Leben. Kein Wunder, dass ich in der Stadt nur wenige Bekannte treffe. Sie sind da – doch anderswo.
Meine Frau – sie zieht den Wald dem Friedhof vor. Lieber geht sie die Wege auf dem Buchenberg, wo Laubwälder flüstern und Lichtungen sich öffnen wie klare Gedanken. Der Weg zur Kapelle hoch oben war seit jeher mein Ziel – seit Kindheitstagen. Viele Wege führen hin, doch meine Mutter wählte immer den schwersten: den Bußweg. Mit steifem Fuß, ohne Klage. Ein Opfer, das wir als Kinder nicht verstanden. Warum sie büßen wollte, blieb ihr Geheimnis. Vielleicht tat sie es für uns. Ich denke daran, während ich selbst nun den Weg gehe. Den leichteren. Den ohne Buße. Zu viele Liebesnächte habe ich dort verbracht, als dass ich ihn noch mit Sühne verbinden könnte. Und doch – der Gang zur Kapelle bleibt Pflicht. Weil er Erinnerung ist. Weil er Heimat ist.
Wer nicht die Höhen sucht, findet Pfade am Fluss. Entlang der Ybbs oder zu den umliegenden Dörfern. Der Radweg durchs Ybbstal – ein romantischer Zug durchs Land, durch Zeit und Landschaft. Und dann ist da das kulturelle Leben der Stadt – Konzerte, Lesungen, Kapellen, Orchester, Künstler von Rang. Waidhofen lebt, nicht nur in mir.
Durch einen Freund fand ich einst den Weg zu einer Runde von Menschen aus alten Tagen. Dienstags und freitags, zur Mittagszeit, trifft man sich. In einer Kneipe, mit Wein und Witz. Lehrer, Ärzte, Polizisten, ein Veterinär, ein Jurist, ein Stoffhändler – es ist gleich, wer sie sind. Wichtig ist: Sie waren da. Und sie sind es noch. Es wird diskutiert, gelacht, die Politik von heute, die Geschichten von früher – alles findet Platz. Die Vergangenheit tritt an den Tisch, wird wieder lebendig. Diese Runde – sie ist gereist, gesegelt, gemeinsam unterwegs gewesen. Auch nach Mexiko habe ich sie eingeladen. Das Interesse ist da – doch der Mut nicht bei allen. Vielleicht gelingt es noch. Vielleicht reist einer, vielleicht auch zwei. Vielleicht auch niemand. Doch die Hoffnung bleibt, wie die Erinnerung: lebendig. Auch vom Besuch, der schon bald zu Ende geht, was uns bleibt ist nur die Erinnerung ans Heut.

